Favelas
Freude den Hütten
Warum Rios Armenviertel plötzlich als chic gelten und wie ein Architekt ihre Schönheit zelebriert

 

 
 


Kidengarten in the favela of Rio das Pedras


Favela Chic. So heisst eine Boutique in einem Pariser Viertel, das eher nach chic aussieht als nach Favela und wo es im Zweifel an einem geplatzten Reifen liegt, wenn es irgendwo knallt. Das ist in Brasilien etwas anders. Und schon gar nicht platzen sechs Reifen auf einmal. Der Morro, sagen die Brasilianer, als sie zerück ins Haus flüchten, der Morro ist immer näher, als man denkt.

Der Morro ist der Hügel, ist die Favela auf dem Hügel, ist der Drogenhändler aus der Favela, ist die Kugelsalve, mit der dieser Drogenhändler den lauen Abend unten in dem alten Villenviertel zerschiesst. Dabei liegt es eigentlich hoch über Rio de Janeiro, aber in dieser Stadt liegt überall oben drüber noch ein Morro und wirft seinen Schatten - also auch auf diesen Abend, den eine mittelständische Kulturklientel damit verbracht hat, sich die beklemmenden Bilder anzuschauen, die ein Fotoreporter von den Polizeirazzien in den Favelas gemacht hat.

Es scheint, als sei die Favela die untrennbare Kehrseite von Rio -und als sei Rio die Schauseite aller Elendssiedlungen dieser Welt.

Immer Rio. Nie Kapstadt, Kairo oder Kalkutta. Nicht einmal Caracas, das fast erwürgt wird von den Slums, deren Macht soeben im Fall Chavez zu begutachten war. Neben dem katastrophischen haben einzig die Favelas von Rio auch einen positiven Mythos - ihre kulturelle Fruchtbarkeit: Mode, Samba, Fussballstars. An den Hängen von Rio lassen Illustrierte wie der "Stern" für Fotostrecken ihre Modelle posieren. Von dort und nirgendwo sonst haben sich gefälligst die Ronaldinhos in die europäischen Ligen hochzudribbeln, denn ohne diesen Aschenputtelzauber wären sie uns keine richtigen Fussballbrasilianer.

So viel Favelafieber wie im Moment war allerdings selbst in Rio selten. Und es sind auffällig viele Deutsche unter denen, die im Moment die "Kultur der Favela" entdecken, so als liege da im naturwüchsigen Chaos der Hütten das kulturelle Reservoir, die Ersatzbatterie, die sich das müde Europa ja immer von Amerika erwartet - und die vielleicht letzte Chance, sich gewissermassen selbst bei der eigenen Kindheit zusehen zu können.

Kultur der Favela" heisst jedenfalls eine grosse Kunstausstellung, die das Goetheinstitut jetzt in Rio ausgerichtet hat und demnächst auch nach Deutschland bringen will. Umgedreht hat die Bauhausstiftung aus Dessau ihren ersten Auslandsauftrag in der mörderischen Favela Jacarezinho - und das, was sie dort ab Mai tun wird, ähnelt ziemlich genau dem, was die Bauhausmoderne in ihren Anfängen schon umgetrieben hat: Licht, Luft und Sonne in dunkel verwinkelte Arbeiterquartiere pflügen. Kern des Projekts ist eine "urbane Zelle", die als symbolische und kulturstiftende Agora in diesen Zweckwohnverband planiert werden soll. Das geschieht im Rahmen eines beispiellosen Städtebauprogramms, das seit Mitte der neunziger Jahre läuft und bislang vor allem von einem Mann geprägt wurde, der etwas anders vorgeht als das Bauhaus. Der Argentinier Jorge Mario Jàuregui hat inzwischen in fast zwanzig Favelas grundlegend "urbanistich interveniert", und jedesmal scheint ihm das Wichtigste gewesen zu sein, dass es hinterher im Grunde so aussieht wie zuvor. Dass die Sportplätze, Kinderkrippen, Gemeinschaftsbauten, Platzanlagen so selbstverständlich indem Hüttengewirr liegen, als seien sie von allein dort gewachsen. Und das wichtigste, was sich für die Favelados Überhaupt nur bauen lässt, sieht man ohnehin nicht: die Kanalisation.

Früher war es in der steil über dem Strand von Leblon gelegenen Favela Vidigal so, dass derjenige, der unten wohnte, durch kurze Wege zwar privilegiert war - man braucht zu Fuss zweieinhalb Stunden bis ganz nach oben -, dafür lag sein Haus andererseits im Delta aller Kloakenströme dieses Berges. So etwas wie die Aussicht ist dagegen eine Luxuskategorie, die von aussen an die Favela getragen wurde, aber für ihre Karriere entscheidend geworden ist.

Und die bunten, optimistischen Häuser, die Jáuregui in diesen Gegenden baut, und zwar wie zur demütigen Wiedergutmachung, weil er irgendwo bei einer Strassenverbreiterung eines wegnehmen musste, diese Häuser wären unter anderen Umständen bestimmt wahnsinnig teuer. Denn manche von ihnen stehen da, als habe sie ein Frank O. Gehry für einen wohlhabenden Werbemenschen an die Küste von Kalifornien projektiert. Es sind oft genau jene kräftigen Farben, kekken Betonschwünge, dramatisch eingesetzten Alugitter, mit denen der internationale Dekonstruktivismus die Wohlstandslangeweile einer exaltierten Kundschaft befriedigt. Diese Ästhetik des Fragmentarischen und Prozesshaften schält Jàuregui allerdings wie eine logische Folge aus den Formen der Favela selbst. Dass es sich mit der aristokratischen Attitüde von oben teilweise so verblüffend trifft, ist dabei eine nicht unwesentliche Pointe. Als Jáuregui für seine Arbeit im vergangenen Jahr mit dem Städtebaupreis der Harvard-Universität geehrt wurde, waren die amerikanischen Zeitungen wieder einmal grundsätzlich verwundert, wieso in Rio eigentlich die Allerärmsten auf den allerbesten Grundstücken wohnen.

Das fand schon der Architekt Le Corbusier bemerkenswert, der ohnehin von Fernsichten besessen war und bei einem Aufenthalt in den dreissiger Jahren in geradezu rousseauistische Schwärmereien ausbrach. Er feierte den Aufstieg auf den Berg als Promenade architecturale, die primitive Reinheit der Schwarzen da oben, ihr, im Gegensatz zum degenerierten Europa, ahrliches, unverfälschtes Leben, ihre Musik, ihre Schönheit, die Schönheit kleiner, karger Zimmer mit Seeblick...Er war regelrecht ausser sich. Die Baugeschichte vermutet, dass in diesem Moment aus dem strengen Funktionalisten der eher organisch formende Le Corbusier wurde. Und eine andere Geschichte vermutet, dass das daran lag, dass auf der Überfahrt die Mitreisende Josephine Baker so heftigen Eindruck auf den Mann gemacht hatte, dass er sie nun ständig an die Hänge von Rio ptojizierte. Vielleicht hätte es ihn gefreut, dass aus den Holzhütten inzwischen mit Ziegeln aufgefüllte Betonskelette geworden sind, die seinen Domino-Häusern ähneln.

Der Blick von oben ist in der abendländischen Erfahrung ein herrschaftlicher Blick. Der Bauer wohnt am Fuss der Burg. Aber in Lateinamerika ist es meistens genau umgekehrt. Dort hat im Laufe der letzten hundert Jahre ein Subproletariat auf den Hängen den Mittelstand umzingelt und in die traumatische Angst versetzt, jederzeit gesammelt herabzusteingen und zu holen, was ihm fehlt. Einmal, Anfang der Neunziger, ist das sogar wirklich geschehen. Das war in Caracas, und die Stadt sah nicht gut aus danach.

Aber nirgends haben die städtischen Armen und die landflüchtigen Landlosen ihre Hütten so zentral, so dicht an den wirtschaftlichen und touristischen Zentren aufgeschlagen wie in Rio. Als Jáuregui vor rund zwanzig Jahren aus der argentinischen Militärdiktatur in die brasilianische floh, da wurde gegen diese Favelas noch mit Gewalt vorgegangen. Der modernistische Städtebau, den alle lateinamerikanischen Regimes pflegten, kannte nur Tabula-rasa-Lösungen - aber keine dauerhaften Erfolge.

Die Sichtbarkeit, die Präsenz des Problems führte dann zum Paradigmenwechsel. Während Auswärtige die Favela im Stile Le Corbusiers romantisierten, ignorierten die Bewohner von Rio sie schlichtweg, was eine Kaum zu bewältigende Verdrängungsleistung ist bei einem Drittel der Stadtfläche und einer Bevölkerung, die etwa der von München entspricht. Diese Menschen und ihre Welt sind weisse Flecken in den Stadtplänen von Rio. Sie haben keine Adressen, folglich Keinen Kredit, sind ausgeschlossen vom Leben der Kapitalistischen Metropole. Das kompensieren sie durch die Kreativität und den Gemeinschaftsgeist, der die Philippe Starcks und Asian Dub Foundations dieser Welt jetzt alle anlockt. Dass die wirtschaftliche Not vor allem mit Drogenhandel kompensiert wird, ist hingegen der Grund, weshalb das Rathaus sich entschlossen hat, diese illegal entstandenen Viertel zu legalisieren, zur normalen Stadt, also kontrollierbar zu machen.

Wo jetzt endlich Feuerwehr und Krankenwagen hinkommen, passen aber auch Polizeiautos durch. Jáuregui brauchte wegen der deshalb etwas sanierungsunwilligen Drogenhändler schon sehr charakterstarke Bauleiter. Er plant auch wegen solcher Sachen jede Intervention in langer Abstimmung mit den Anwohnern. Er hört manchmal monatelang erst mal nur zu, erschliesst sich das Viertel und seine Geschichte mit den Füssen und den Augen, zieht wie die Favelados mit freiem Oberkörper um die Häuser, schnüffelt wie ein Hund in allen Ecken und denkt sich die Favela wie ein Deleuzesches Rhizom, wie ein Gewebe mit mehreren Zentren, das schon wusste, was es tat, als es wuchs. Es geht im Grunde nur darum, das naturhaft Gewachsene weiterzubauen, Identitäten zu verstärken - und nebenbei nicht zuletzt eine Ästhetik der Favela freizulegen und den Neubauten zu spiegeln: eine riskante, anarchische Schönheit von unten. Sie könnte ein Modell sein. Jàuregui hat schonerste Aufträge im Ausland. Das wichtigste in der Favela ist die Schönheit von unten. Sie könnte ein Modell sein. Jáuregui hat schon erste Aufträge im Ausland. Das wichtigste in der Favela ist die Schönheit der Beziehungen diese Geseleschaft, sagt Jáuregui, und wer behauptet, inmitten so viel sozialen Elends gebe es wichtigeres als die Schönheit, der ist ein arroganter Barbar.


Aerial view of the urbanization of Fernão Cardin

Peter Richter