Favelas
Zukunftslaboratorium Rio de Janeiro
Über Arbeiten des brasilianischen Architekten Jorge Mario Jáuregui
Elisabeth Blum

 

 
 

Wenn am 16. Juni 2007 die documenta XII in Kassel ihre Tore öffnet, wird auf der hügelhinansteigenden Serpentine inmitten des Schlossparks, zwischen Fontäneteich und Teufelsbrücke, in der Achse der Kaskadenkulisse und des Kasseler Wahrzeichens Herkules ein Pavillon des brasilianischen Architekten und Urbanisten Jorge Mario Jáuregui stehen. Inspiriert vom ‚bastlerischen’ Minimalismus eines ‚Stücks informeller Architektur’ aus der Favela Doña Marta in Rio de Janeiro, übersetzt Jáuregui symbolisch jenen gesellschaftlichen Ort in die Achse des Kasseler Kunstkontexts, an dem tagtäglich und ganz real wenigstens zwei der Fragen beantwortet werden, die der documenta XII zugrunde liegen: „Was ist das blosse Leben?“, „Was tun?“
Diese stadträumliche Verschränkung spricht symbolisch von den urbanen Äquivalenten oder Kreuzungsorten informeller und formeller Ökonomie und Gestaltung, wo die Fragen der Kuratoren nach der „absoluten Verletzlichkeit und Ausgesetztheit“ des blossen Lebens akut werden –
hier wie dort. Das „blosse Leben“ ist das exkludierte Leben. Übersetzt in die urbane Realität findet es sich dort, in der Favela, auf dem Territorium der Exkludierten par excellence. Hier, in Kassel dagegen,
lokalisiere die Gesellschaft ihre Ausgeschlossenen, Jáuregui zählt sie auf, Afrikaner, Russen, Pakistani, Türken, Afghanen im selben physischen Raster, jedoch mit erheblichen urbanen Defiziten.
Mit Jáureguis Präsenz in Kassel ehrt die documenta nicht nur einen aussergewöhnlichen brasilianischen Architekten, der seinen Rang in erster Linie Projekten in prekären städtischen Zonen verdankt, für die ihn die Harvard Graduate School of Design 2001 mit dem renommierten Veronica Rudge Green Prize in Urban Design ausgezeichnet hat. Diese Anerkennung gebührt auch dem hinter Jáureguis Interventionen stehenden „Favela-Bairro“-Programm, mit dem die Stadt Rio de Janeiro unter ihrem Bürgermeister Cesar Maia im Jahre 1994 der jahrzehntelang praktizierten Vertreibung der Favela-Bewohner und der Zerstörung ihrer Siedlungen, insbesondere während der Zeit der Militärdiktatur, ein Ende setzte. Und gleichermassen der Architektin Maria Lúcia Petersen, die als Verantwortliche der Stadtverwaltung für die Umsetzung des Programms dafür sorgt, dass Rio der Ruf eines Zukunftslaboratoriums vorauseilt.

Das Ende der Verdrängung
Ziel des „Favela-Bairro“-Programms ist die Integration der Favelas in den städtischen Kontext. Dabei geht es um die stadt- und sozialräumliche Vernetzung mit den benachbarten Quartieren (Bairros), um die soziale und ökonomische Einbindung der Favelas in die Stadtgesellschaft. Und es geht darum, die auf besetzten privaten wie öffentlichen städtischen Arealen errichteten informellen Siedlungen als produktive Erzeugnisse jener 20 bis 40 Prozent der städtischen Bevölkerung anzuerkennen, die zur Sicherung ihrer Existenz in der Vergangenheit nur auf ihre eigene Inititative zählen konnten. Ausdrücklich geht es darum, eine „virtuelle“ Planung aufzugeben, die ihre „Standards“ ausschliesslich auf mittlere und obere Einkommensschichten zuschneidet und damit einem Grossteil der Bevölkerung keine Chance für Investitionen im gebauten Raum lässt.
Nicht nur der praktizierten Politik der Verdrängung und Ignoranz wird Realitätsferne vorgehalten, sondern auch bestehendem Recht. Deswegen will man einen Schritt weiter gehen. Warum? Der peruanische Ökonom Hernando de Soto spricht von Formen „legaler Apartheid“, weil praktiziertes Recht Zuwanderern keine andere Möglichkeit lasse als die, „sich in die Informalität zu begeben“. „Gutes Recht“, sagt de Soto, sei ein Recht, das die Realität nicht behindert oder gar negiert, sondern
einen Schritt in Richtung Realität tut, um dieser nicht weiter Gewalt anzutun. „Gutes Recht“ sei ein Recht, das das „Entwicklungspotential der Migranten“ nicht länger blockiere und somit soziale Bedeutung erhält. Der brasilianische Jurist und Planer Edésio Fernandes nennt die mit der Favela-Regularisierung gemachten Erfahrungen „essentiell politisch“, weil sie „unmittelbar die Struktur städtischen Grund und Bodens betreffen“. Bereits die Anerkennung der Favela-Bewohner „als Rechtssubjekte“, sagt er, trage dazu bei, die „Grundlagen einer neuen, sozial ausgerichteten [...] Kultur der Stadtplanung zu schaffen“.
Hier wird klar, dass die symbolische Kreuzung, welcher im Kasseler documenta-Territorium ein visuelles Zeichen gesetzt wird, unübersehbar reale Dimensionen besitzt. Hier wie dort, in unseren Städten wie in Rio de Janeiro, sind Menschen- und Bürgerrechte direkt an Fragen des Zugangs zu privaten wie öffentlichen Räumen der Stadt gekoppelt. Hier wie dort drehen sich Architektur und Planung plötzlich um die Rechte derer, denen Rechte abgesprochen werden. In Rio de Janeiro, wo formelle und informelle Realitäten im Stadtkontext aufeinanderstossen, sind die ersten konkreten Schritte zu Beantwortung dieser Fragen getan. Damit ist uns Rio um einiges voraus. Denn wo sind bei uns die architektonisch-städtebaulichen Wettbewerbe, bei denen es um die stadträumliche Präsenz der Migranten und Sans-Papiers geht? Um die Rechte der Rechtlosen und um deren Zugang zu öffentlichen Einrichtungen?

Favela-Urbanisierung und Drogenhandel
Nicht nur geringes Prestige – das wird sich mit wachsender Brisanz des Themas und internationaler Anerkennung ändern – machte es Maria Lúcia Petersen anfänglich schwer, Architekten für die städtischen Wettbewerbe zu gewinnen, auf deren Grundlage Favelas urbanisiert werden können.
Auch die Angst vor der Drogenmafia bestimmt das Planungsklima. Wenn Drogenhändler in einer Favela das Heft in die Hand nehmen, dann weil es die öffentliche Gewalt in Favelas nicht gibt, mangels befahrbarer Strassen auch keine Polizei. Vor einer urbanistischen Intervention fehlt jeder öffentliche Zugang, fehlen öffentliche Einrichtungen – alles ist privat, auf eigene Kosten und mit eigener Hand erstellt. Aus einer urbanisierten Favela ziehen sich Drogenhändler oft zurück, weil sie für sie nicht mehr „sicher“ ist. Das heisst jedoch nicht, dass es sie nicht mehr gibt – sie sind nach wie vor präsent, auch über die von ihnen beauftragten Repräsentanten in den Favela-Selbstverwaltungen. In der Vergangenheit waren es übrigens oft finanzstarke Drogenhändler, die das Fehlen öffentlicher Investitionen kompensierten, indem sie stellvertretend „öffentliche“ Aufgaben übernahmen und damit entsprechende Abhängigkeiten schafften.
Jáuregui weiss, dass der Städtebau allein kein einziges Problem lösen kann. Städtebauliche Investitionen aber haben eine weitreichende reale und symbolische Bedeutung. Die Urbanisierung von Favelas – zusammen mit Erziehung und Bildung, mit der Schaffung von Arbeitsplätzen und Einkommen, mit Gesundheits- und Sicherheitspolitik, mit einem Wort: strategische Planung verknüpft mit urbanistischer Intervention – sei der einzige Weg, um die Favela-Gesellschaft zu einem Teil der Stadtgesellschaft zu machen.

Eine Favela urbanisieren heisst, Attribute einer normalen Stadt einzuführen
Welche Attribute? Alle Formen der Infrastruktur, sagt Jáuregui. Zugangswege und -strassen, die die Favela mit ihrer Umgebung verbinden. Zentrale Gebäude – wie der Sitz der Favela-Selbstverwaltung – und Plätze, die ein Gemeinschaftsleben ermöglichen. Bildungseinrichtungen. Räume für körperliche Betätigung und kulturelle Aktivitäten. Die Struktur der zentralen Einrichtungen zu konzipieren, das sei eine der wichtigsten Aufgaben. Sie reguliere die Intensität der physischen und sozialen Beziehungen, auch zwischen einer Favela und den angrenzenden Stadtquartieren. Bis heute übernehmen diese Aufgabe nur der Fussball und der Strand. In einer Favela, sagt Jaurégui, agiert jedes öffentliche Gebäude wie ein Denkmal. Jedes noch so kleine öffentlich genutzte Gebäude hat eine symbolische Funktion, sogar der Müllplatz. Alle Interventionen stehen für das, was bisher gefehlt hat: das Öffentliche. Vor einer urbanistischen Intervention gibt es nur das Private, die endlose Aneinanderreihung einzelner Häuser.
Am Beispiel der Favela Fubá-Campinho zählt Jáuregui auf, was zum Bauprogramm gehörte: ein Fussballplatz, ein Gebäude, das als Sitz der Favela-Selbstverwaltung dient, ein Zentrum für Berufsausbildung, eine Bäckerei, ein Gebäude für die Sozialberatungsstelle, ein Ort, an dem man private und öffentliche Konflikte besprechen kann. Ein weiteres wichtiges Gebäude ist das Zentrum für städtebauliche Eingriffe, ein anderes für die sportliche Betätigung nicht nur von Kindern, sondern von Menschen aller Altersstufen. All diese Einrichtungen nutzen nicht nur die Bewohner der Favela, sondern auch Menschen aus den umliegenden Bairros, vor allem an den Wochenenden. Eine neue Strasse wurde gebaut, die jetzt als Zugang zur Mülldeponie dient, ein Kindergarten, ein Gebäude für Leute, die früher auf der Strasse geschlafen haben.
In der Favela Salgueiro zum Beispiel war zusätzlich das Zentrum für Arbeits- und Einkommensbeschaffung wichtigster Programmpunkt. Es bietet Raum für zahlreiche Aktivitäten: für handwerkliche Arbeiten, für das Reparieren von Kleidung, von Schuhen und Gebrauchsgegenständen aller Art, also für alles, was mit den Händen gemacht werden kann. Über diese Serviceleistungen, die Kunden kommen aus dem Mittelstand angrenzender Quartiere, wird das Zentrum zu einer Verbindung zwischen Favela und Stadt. Andernorts verbinden neu angelegte Parks Favela und Bairros. Darüber hinaus, berichtet Jáuregui, gibt es in Salgueiro Räume für Sambamusik, für Wochenendpartys, für Workshops, für Geburtstagsfeiern, Fiestas, Bälle. Im Ergebnis also ein öffentlicher Raum, konzipiert als eine Art Agora und geöffnet bis Mitternacht. In Favelas, sagt Jáuregui, kann man alles verändern – nur nicht das, was für die Identifikation der Bewohner mit dem Ort das wichtigste ist: die Escola de Samba und der Fussballplatz, das sind die Orte, wo sich die Bewohner von Favela und angrenzenden Vierteln treffen.

„Partido urbanistico“, Enrique Miralles’ Schnüffelpraktiken und das Recht auf Schönheit
Wenn Jáuregui über seine Analyse- und Entwurfsmethoden spricht, erzählt er gern davon, dass der spanische Architekt Enrique Miralles einmal von Rios Stadtverwaltung zu einem Workshop eingeladen
worden war. Er sei sehr beeindruckt gewesen von dessen Praxis, sich einen Ort anzusehen: ähnlich einem Hund, der mit der Nase dicht am Boden alles erschnüffelt. Miralles sah sich in der Favela nicht nur um, er roch sie und er hörte sie. Eine interessante Verwandtschaft!
Die erste Frage, die Jáuregui sich als Architekt stellt, ist stets dieselbe: „Auf welche Weise nähere ich mich einer gegebenen Situation? Was alles steckt in meiner Strategie, um die Strukturen eines Ortes zu entziffern?“ So eröffnet sich ihm ein Horizont. Zugleich grenzt er das Projekt so ein. Alles hänge von der Art und Weise ab, wie man eine Situation anschaue, wie man Fragen an sie stelle. Ein Ort müsse in all seinen Aspekten interpretiert werden. Jáuregui bezieht sich dabei ausdrücklich auf Gilles Deleuzes und Félix Guattaris Tausend Plateaus. Es geht ihm um die städtebaulichen ebenso wie um die sozialen, politischen, kulturellen, geographischen, wirtschaftlichen und ökologischen Schichten eines Ortes. Allerdings hätten nur Architekten und Städtebauer die Fähigkeit, aus all diesen Variablen eine formale und räumliche Konfiguration zu fabrizieren.
Partido urbanistico ist für Jáuregui so etwas wie der städtebauliche Schlüssel, um ein Projekt formulieren zu können, ein Dispositiv für das Lesen eines Ortes in all seinen verschiedenen Aspekten, die kohärente referentielle Basis. Einen Ort lesen heisst für ihn, die verschiedenen Schichten der Wirklichkeit zu unterscheiden und zusammen zu denken: die Schicht der zentralen Punkte, die Schicht der physischen und sozialen Grenzen und Möglichkeiten, die Schicht des Abfallbeseitigungssystems genauso wie jene der Topographie oder der Schönheit. Die wichtigste Frage ist die nach all diesen Lektüren, nach den Beziehungen zwischen dem Physischen, dem Sozialen und dem Kulturellen, die jeweils die Einzigartigkeit eines Ortes definieren.
Jáuregui macht keine Unterschiede zwischen reichen und armen Bauherrschaften, zwischen Elends- oder Villenquartieren. Der „Anspruch auf Schönheit“ ist für ihn hier wie dort eine Kategorie des Denkens und eine Frage der Ethik. Für die Bewohner von Favelas gebe es normalerweise kein „Recht auf Schönheit“, dabei sei doch dieses Recht genauso wichtig wie das Recht auf Infrastruktur, auf soziale Einrichtungen oder auf einen Arbeitsplatz. Der Architekt, sagt Jáuregui, habe geradezu eine Verantwortung für dieses „Recht auf Schönheit“. Unter sozialen Aspekten seien Architekten nur dann von Nutzen, „wenn sie Ethik und Ästhetik in jeder Situation und im Umgang mit jedem Objekt miteinander in einer konsistenten formalen und räumlichen Struktur zu vereinen wissen“. Wenn sie nicht dies als ihre Arbeit verstehen, dann machen sie weniger, als sie können und als sie tun sollten.

Warum Psychoanalyse?
„Ich arbeite so“, sagt Jáuregui, „weil ich nicht nur von Städtebau und Architektur beeinflusst bin, sondern von anderen Disziplinen. Ich bin Mitglied der Letra Freudiana, dem Psychoanalytischen Institut von Rio de Janeiro, einer von Lacan geprägten Schule für Psychoanalyse. In gewisser Hinsicht ist es ein Luxus, die psychoanalytische Methode zu verwenden, meines Erachtens allerdings ein begründbarer und notwendiger Luxus.“ Was man an einem Ort sehe, das sei eine Sache. Was man aber erfahren könne, wenn man den Leuten zuhöre, sei eine ganz andere. Also rede er mit den
Favelados, ständig, während des gesamten Planungs- und Bauprozesses. Ein fortlaufendes Gespräch. Von der Psychoanalyse könne man lernen, wie man jemandem zuhöre. Psychoanalytiker interessierten sich für einzelne Menschen in ihrer Einzigartigkeit. Auf ähnliche Weise müssten Architekten auf die Ansprüche jedes einzelnen hören, auf das, was die Menschen brauchen. Dabei müssten sie zwischen manifesten und latenten Bedürfnissen zu unterscheiden verstehen. Es sei absolut notwendig, nicht nur dem zu glauben, was Menschen mit Worten sagen, sondern auch dem nachzugehen, was sie nicht sagen: „Wenn man Menschen zuhört, kommen ‚Irrtümer’ zum Vorschein, unterdrückte Ideen und Wünsche, Informationen, auch nicht-rationale Argumente. Architekten müssen eine Atmosphäre schaffen, in der die nicht erkannten Wünsche der Favelados die Chance haben, zum Vorschein zu kommen.“ Infrastrukturen, Strassen, Kindergärten, Befestigung der Abhänge und so weiter, all das seien grundlegende Dinge, die die Einwohner der Favelas bräuchten. Aber man müsse mehr tun. Die Beziehung zwischen Architekten und Favela-Bewohnern müsse so beschaffen sein, dass deren mögliche Wünsche im Dialog auftauchten. Dieser Dialog sollte immer „über das Mögliche hinausgehen“, in das „Reich des Unausgesprochenen“ vordringen. Denn die Wünsche zeigen sich nur innerhalb jener besonderen Übertragungsbeziehung, die wie ein psychoanalytischer Prozess funktioniert.
Wenn Jáuregui davon spricht, dass man heute einfach erkennen müsse, wie prekär in der ganzen Welt die Beziehung zwischen sozialen und städtebaulichen Fragen sei, zwischen den ästhetischen und ethischen Dimensionen jedes städtebaulichen und architektonischen Werkes, dann kann man nur staunen, dass ein Architekt aus Brasilien uns durch seine Arbeit zeigt, wie wenig Architekten die
brisante Lage unserer Städte wahrnehmen.
„Die Leute von der Harvard University waren so klug zu verstehen“, stellt Jáuregui zufrieden fest, „dass diese Art der Arbeit notwendig ist. Und dass es notwendig ist, solche Projekte mit einem Preis zu ehren.“ In seinem Heimatland Argentinien hatte sich Jáuregui politisch engagiert. Nach dem militärischen und politischen Staatsstreich (1976) hat er Argentinien 1978 verlassen müssen. Heute sagt er über sich: „In Brasilien wurde aus dem politisch-technischen Kämpfer ein technisch-politisches Subjekt, aus dem politischen Kämpfer wurde einer für Architektur und Städtebau.“

Ausführliche Interviews und Informationen in dem von Elisabeth Blum und Peter Neitzke herausgegebenen Band FavelaMetropolis. Berichte und Projekte aus Rio de Janeiro und São Paulo, Bauwelt Fundamente Bd. 130, Basel, Boston, Berlin (Birkhäuser) 2004, ISBN 3-7643-7063-7


KASTENTEXT

Unter dem persönlichen Schutz des Big Boss
„Ich erinnere mich etwa an ein ganz besonderes Ereignis an einem sehr heißen Tag in der Favela Fernão Cardim. Ich stand dort auf einem Platz, der nicht den geringsten Schatten bot, und hatte fast nichts an, nur eine Hose, wie man sie am Strand trägt. Die Baupläne waren feucht, weil die Leute sie mit den Händen angefasst hatten. Es war etwa 12 Uhr mittags, es waren viele Leute gekommen, und es war sehr laut. Obendrein spielte Musik, ich hatte ein Mikrophon, um unser Projekt vorzustellen. Plötzlich tippt mir jemand auf die Schulter und sagt: ‚Jorge, ich möchte dich gerne mit João bekannt machen.’ Ich diskutierte gerade mit vielen Leuten, die mich nach Details des Projekts gefragt hatten. Plötzlich fällt mir ein, dass ich in der Zeitung gelesen hatte, dass der grosse Boss in dieser Favela João hieß. Da sehe ich ihn: ein junger Mann zwischen 20 und 25, sehr gut gekleidet, Hemd und Krawatte, perfekt sitzender Anzug, sehr elegant – und ich stehe da, halb nackt wie ein Bettler, vor einem, der es geschafft hat. Ich sehe ihn an frage ihn: „Wollen Sie sich das Projekt ansehen?“ Er antwortet: „Nein, nein, was die Favela-Selbstverwaltung gebilligt hat, geht in Ordnung. Ihr Projekt ist schon in Ordnung. Niemand hier wird Sie behindern!“ Es war ein seltsames Gefühl: Ich spürte, dass hier keiner jemals Hand an mich legen würde – ich dachte, ich wäre am sichersten Platz der Welt!
[...] Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Ich hätte ihm sagen können: ‚Wenn Sie etwas vorschlagen wollen, dann lassen Sie uns bei einem Kaffee darüber sprechen.’ Aber ich habe es nicht getan. Wir haben uns die Hand gegeben, dann hat er sich umgedreht und ist durch die Menschenmenge davongegangen. Ich habe ihn nie wieder gesehen oder getroffen. In der Favela ist danach nichts geschehen, was unsere Arbeit erschwert oder unmöglich gemacht hätte.“

Elisabeth Blum